Der Hase und der Igel

Diese Geschichte, liebe Kinder, mag euch unwahr erscheinen, aber sie hat sich wirklich zugetragen. Denn mein Großvater, der sie mir erzählte, pflegte immer zu sagen: „Es muss wahr sein, mein Sohn, sonst hätte man es dir gar nicht erzählen können.“
Also hört gut zu…

Eines Sonntagmorgens, zur Erntezeit, als der Buchweizen in voller Blüte stand, die Sonne am Himmel schien, ein warmer Wind über das Stoppelfeld wehte, die Lerchen in der Luft sangen, die Bienen summten zwischen den Blüten des Buchweizens, die Menschen in Sonntagskleidung zur Kirche gingen und alle Geschöpfe zufrieden waren – auch der Igel.

Kurze Märchen - Der Hase und der Igel
Der Hase und der Igel

Der Igel stand vor seinem Häuschen, die Hände in die Seiten gestemmt, genoss die frische Morgenluft und summte leise ein Liedchen, wie es Igel an einem gesegneten Sonntagmorgen eben tun.
Während er so vergnügt vor sich hin summte, dachte er: „Während meine Frau die Kinder badet und trocknet, könnte ich hinüber aufs Feld gehen und nachsehen, wie meine Rüben wachsen.“ Da sie gleich neben seinem Haus wuchsen und das Hauptnahrungsmittel seiner Familie waren, betrachtete er sie als seinen größten Schatz.

Gedacht, getan.
Er schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zum Feld.
Kaum war er ein Stück gegangen, bog er um einen Schlehenstrauch am Feldrand – und da erblickte er den Hasen!
Der Hase war ebenfalls aufs Feld gegangen, um nach seinem Kohl zu sehen.

Der Igel grüßte ihn höflich:
„Guten Morgen, Herr Nachbar!“

Doch der Hase war ein stolzer, überheblicher Geselle. Er rümpfte nur die Nase und antwortete spöttisch:
„Was läufst du so früh am Morgen hier herum, du kleiner Krüppel?“

Der Igel ärgerte sich. Nicht, dass er von Natur aus streitsüchtig gewesen wäre, aber Beleidigungen seiner Beine ertrug er sehr schlecht. Und so erwiderte er stolz:
„Du meinst wohl, deine Beine sind besser als meine?“

Der Hase lachte und sprach:
„Natürlich sind sie besser! Mit meinen langen Beinen kann ich viel schneller laufen als du mit deinen krummen Pfoten!“

Da platzte dem Igel der Kragen:
„Gut, dann lass uns wetten! Wenn wir ein Rennen laufen, werde ich dich besiegen!“

„Was?“ Der Hase lachte noch lauter. „Du? Mit deinen kurzen Beinchen? Das ist lächerlich!“
Doch da der Hase immer Lust auf ein bisschen Spaß hatte, willigte er ein:
„Gut! Worum wetten wir?“

Der Igel sprach:
„Um einen goldenen Taler und eine Flasche Branntwein.“

Der Hase schlug siegessicher ein:
„Abgemacht! Das Rennen beginnt sofort!“

Doch der Igel schüttelte den Kopf:
„Nicht so hastig. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Ich gehe nach Hause, esse etwas, und in einer halben Stunde treffen wir uns hier wieder.“

Der Hase willigte ein, und so ging der Igel heim…

Unterwegs dachte er:
„Der Hase verlässt sich auf seine langen Beine, aber ich werde ihn überlisten! Schnell mag er sein, doch er ist dumm.“

Zuhause rief er seiner Frau zu:
„Liebe Frau, zieh dich schnell an, du kommst mit mir aufs Feld!“

„Was ist denn los?“ fragte die Igelin.

„Ich habe eine Wette mit dem Hasen abgeschlossen. Wir laufen ein Rennen, und ich muss ihn besiegen!“

„Um Himmels willen, Mann!“ rief sie. „Du bist wohl verrückt? Wie willst du denn einen Hasen besiegen?“

„Sei still, Frau!“ entgegnete der Igel. „Das ist Männersache! Zieh dich an und komm mit!“

So musste die Igelin gehorchen.

Am Feld erklärte der Igel seiner Frau:
„Hör gut zu. Wir laufen in dieser Furche. Der Hase läuft in der einen, ich in der anderen. Und du stellst dich ans Ende des Feldes. Wenn der Hase unten ankommt, rufst du: ‚Ich bin schon hier!‘“

Die Frau willigte ein.

Dann stieg der Igel den Hügel hinauf, wo der Hase schon auf ihn wartete.
„Bist du bereit?“ fragte der Hase spöttisch.
„Natürlich!“ erwiderte der Igel.
„Gut! Auf drei!“ Der Hase begann zu zählen:
„Eins… Zwei… Drei! Los!“

Der Hase schoss davon wie der Wind.
Der Igel aber machte nur ein paar Schritte, duckte sich in die Furche – und blieb sitzen.

Als der Hase unten ankam, stand dort schon die Igelin, die rief:
„Ich bin schon hier!“

Der Hase stutzte, riss die Augen auf und traute seinen Ohren nicht.
„Unmöglich! Wir müssen noch einmal laufen!“ schrie er und rannte zurück.

Doch als er oben ankam, stand dort der Igel selbst und rief:
„Ich bin schon hier!“

Der Hase tobte.
„Noch einmal!“ brüllte er.

So lief er wieder… und wieder… und wieder.
Insgesamt dreiundsiebzig Mal!
Doch jedes Mal, ob oben oder unten, wartete dort schon der Igel oder seine Frau und riefen:
„Ich bin schon hier!“

Beim vierundsiebzigsten Lauf jedoch brach der Hase mitten auf dem Feld erschöpft zusammen.

Der Igel sammelte zufrieden den gewonnenen Taler und die Flasche Branntwein ein, rief seine Frau zu sich, und gemeinsam gingen sie heim – fröhlich und zufrieden.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Und seitdem hat sich kein Hase je wieder auf ein Rennen mit einem Igel eingelassen.


Niemand, so groß er auch sei, sollte den Schwächeren verspotten.
Und wenn man heiratet, sollte man seinesgleichen wählen – denn auch der Igel nahm sich eine Igelin!

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